Christina Jeremić und ihr Team von Lona Project arbeiten mit von Menschhandel betroffenen Personen. Im Portrait erzählt sie Mihaelas Geschichte, die exemplarisch für viele Betroffene steht, und sagt: In jeder Begegnung geht es darum, den ganzen Menschen zu sehen, nicht nur dessen Handeln.
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CHRISTINA JEREMIĆ IM PORTRAIT
Mihaelas Tochter ist zwei Jahre alt, als bei ihr Parodontitis diagnostiziert wird. Die entzündliche Erkrankung führt zu einem fortschreitenden Verlust von Zahnfleisch und Kieferknochen, was die Zähne lockert und im schlimmsten Fall zum Ausfallen bringt. Mihaela weiss, dass sie sich eine zahnärztliche Behandlung in Rumänien nicht leisten kann. Eine Bekannte empfiehlt ihr, in der Schweiz für eine kurze Zeit in der Prostitution zu arbeiten, um die Behandlung finanzieren zu können. In ihrer Verzweiflung folgt Mihaela dieser Empfehlung und landet in Luzern in einem Bordell. Sie verachtet sich schon bald für ihre Entscheidung, obwohl sie ihrer Tochter unbedingt helfen möchte. Nach etwa einem Monat in der Schweiz begegnet sie Christina Jeremić, die in ihr mehr sieht als nur ihren Beruf.
Schon während ihres Studiums begann Christina, sich gegen Menschenhandel einzusetzen. Ein Bezug zu sozial benachteiligten Menschen wurde schon früh durch ihr Elternhaus hergestellt. «Wir hatten immer ein offenes Haus. Menschen aus unterschiedlichen Lebenssituationen sassen an unserem Küchentisch oder feierten sogar Weihnachten mit uns. Das hat mich sehr geprägt.» Diese Prägung führte dazu, dass Christina Soziale Arbeit studierte. Während ihres Studiums schloss sie sich dem Verein bLOVEd an und begann mit Besuchen im Luzerner Rotlichtmilieu. Kein einfacher Einstieg: «Ich hatte keine Ahnung. Im ersten Bordell liefen die ganze Nacht Pornos auf allen Bildschirmen. Ich weiss noch, wie ich dort stand und dachte: Oh mein Gott, wo bin ich hier gelandet? Gleichzeitig hatte ich aber auch die Gewissheit und den Frieden darüber, dass ich am richtigen Ort war.» Die Anfangszeit war von grossem Enthusiasmus geprägt: «Mit Kaffee, Schokolade und Tee zogen wir als ein Team von spontanen Helfenden los, sprachen mit ihnen von Frau zu Frau, beteten gemeinsam oder redeten über Gott.» Sie waren teilweise auch etwas übermütig unterwegs. Christina erinnert sich: «Einmal brachten wir einen Grill mit auf den Strassenstrich. Wir grillierten den ganzen Abend, gemeinsam mit Prostituierten und etwa zehn Freiern. Das Verrückteste war, dass uns einer von ihnen Geld spendete, weil wir aus seiner Sicht so eine tolle Arbeit machten.» Damals gab es rund 30 Frauen auf dem Strassenstrich in Luzern. Heute würde man dort nur noch sechs oder sieben Frauen antreffen.
Wir grillierten den ganzen Abend, gemeinsam mit Prostituierten und etwa zehn Freiern.
Christina definiert Menschenhandel als eine Anwerbung unter falschen Versprechungen. «Den Menschen wird versichert, dass sie einen Job ausführen können, beispielsweise in der Reinigung oder in der Gastronomie, der dann den Erwartungen aber so gar nicht entspricht. Was dann passiert, ist Ausbeutung.» Die Betroffenen kommen an einen Ort, an dem sie etwas machen müssen, wozu sie nicht eingewilligt haben. Um dem entgegenzuwirken, gründete Christina im Jahr 2022 das Lona Project. Dort stehen Sensibilisierung, Prävention und Aufklärung im Fokus. «Wir wollen Menschen dazu ermutigen, selbst Verantwortung zu übernehmen und sich für Betroffene einzusetzen.» Sie bieten Schulungen an für Jugendliche aus vulnerablen Gebieten. Das sind z. B. Länder, die von Armut betroffen sind. Jugendliche, die in instabilen Familienverhältnissen aufgewachsen sind, seien in vielen Fällen auch stärker gefährdet. «Es geht darum, Würde zu vermitteln und ihnen ihren Wert aufzuzeigen. Ich bin überzeugt: Wenn du in deiner Persönlichkeit sicher verankert bist, dann lässt du dich nicht so einfach beeinflussen und kannst bessere Entscheidungen treffen.» Während ihres Besuches in einer Roma-Gemeinde in Montenegro machten Christina und ihr Team die Aussage, dass man mit oder ohne Uniabschluss gleich viel wert sei. Der Wert hänge auch nicht davon ab, ob man lesen oder schreiben könne. Ob man aus der Schweiz oder aus Montenegro komme, sei völlig egal. Daraufhin kam ein Ro-ma-Junge zu Christina, sah sie an und meinte: «Du willst mir wirklich sagen, dass du aus der Schweiz gleich viel wert bist wie ich, der aus Montenegro stammt und zudem Roma ist?» Christina versicherte ihm, dass wir alle vor Gott gleich viel wert seien. «Ich werde nie vergessen, wie sich seine Augen augenblicklich mit Tränen füllten.» Gemeinsam mit ihrem Team arbeitet Christina daran, das Präventionsprogramm von Lona Project auszubauen und externe Partner zu gewinnen, die ihre Arbeit vor Ort unterstützen können.
Bei einem weiteren Treffen erzählt Mihaela, dass sie als Kind in Rumänien mehrmals an einem christlichen Lager teilgenommen hat, das von Missionaren organisiert wurde. Die Lieder, die sie dort gesungen haben, kennt sie noch alle. Wenn es ihr nicht gut geht, summt sie diese Lieder immer wieder vor sich hin. Kurz nach dem Treffen der beiden ging wegen der Pandemie auf einen Schlag alles zu. «Wir mussten gemeinsam schauen, wie Mihaela nach Hause kommen konnte. Sie fand glücklicherweise noch einen Flug nach Budapest, von wo aus sie mit dem Zug nach Rumänien fuhr», erinnert sich Christina. Während der Zugfahrt hatte Mihaela eine Panikattacke. In ihrem Abteil sass ein rumänischer Theologiestudent. Er begann zu beten und aus der Bibel vorzulesen. Immerzu sagte er: «Jesus komm, Jesus komm.» Mihaela erlebte einen Moment des tiefen Friedens, und die Panik wich. Christina erinnert sich, wie Mihaela aus Bukarest anrief: «Christina, ich habe diesen Gott erlebt. Ich habe die gleiche Nähe gespürt wie damals im Kinderlager. Ich will nicht mehr in der Prostitution sein. Was mache ich jetzt? Ich habe im Keller noch eine Bibel. Wo muss ich anfangen zu lesen?» Von da an unterhielten sich die beiden einmal in der Woche, und Christina leitete Mihaela im Bibellesen an.
Betroffene Personen lebten oft mit einer Art zweigeteilter Persönlichkeit, erklärt Christina. Zum einen sei da die Person, die in der Prostitution arbeitet, zum anderen aber auch die Mutter, Freundin und Tochter. Die beiden Welten haben nichts miteinander zu tun. Deshalb geben sich die Frauen oft auch einen anderen Namen. «Einmal sagte mir eine Frau, sie sei eine Prostituierte, aber kein Roboter. Sie habe ein Herz. Sie habe gelernt, ihr Herz auszuschalten, wenn sie anschaffen gehen muss, wüsste aber, zu welchem Zeitpunkt sie es wieder einschalten kann.» Gott spricht uns Würde zu und gibt uns einen Wert. Christinas Wunsch ist es, dass Menschen das erfahren dürfen. Dabei achtet sie sehr darauf, wie sie kommuniziert. Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, bedeutet, sie samt ihrer Entscheidungen zu respektieren, insbesondere dann, wenn jemand aus freien Stücken in der Prostitution sein möchte. Aus Christinas Sicht kann die menschliche Würde zwar verletzt, aber niemals ganz genommen werden: «Unsere Worte und Taten haben viel Kraft. So wie wir etwas durch Worte und Taten kaputt machen können, kann durch Worte und Taten auch Wiederherstellung passieren. Menschlichkeit bedeutet, die Menschen nicht auf das zu reduzieren, was ihnen passiert ist oder was sie tun. Es geht darum, den kompletten Menschen zu sehen.»
Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, bedeutet, sie samt ihrer Entscheidungen zu respektieren.
Während ihrer Besuche in Osteuropa hat Christina gemerkt, dass das, was sie und andere in der Schweiz auf dem Strassenstrich unternehmen, zwar gut ist, aber nicht wirklich die Wurzel des Problems trifft. Die Würde der Menschen sei dann bereits verletzt. Sie wiederherzustellen ist zwar möglich, nimmt aber sehr viel Zeit in Anspruch. Christina und das Team von Lona Project wollen neben der Präventionsarbeit realistische Alternativen zur Prostitution bieten, damit die Menschen gar nicht erst in eine solche Situation hineingeraten. Sie denkt dabei u. a. an Kleinkredite, mit denen kleinere Unternehmen realisiert werden können.
Nach ihrem Ausstieg aus der Prostitution konnte Mihaela zum einen die Behandlung ihrer Tochter bezahlen, zum anderen begann für sie ein langwieriger Prozess der Heilung und der Vergebung sich selbst gegenüber. Heute weiss sie, dass sie sich nicht länger schuldig fühlen muss, dass sie Gott begegnen darf und – vor allem – dass sie wertvoll ist. Einmal sagte sie zu Christina: «Du hast immer an mich geglaubt, du siehst mich als Mensch und nicht als Prostituierte.» Genau das macht aus Christinas Sicht den Unterschied: Nicht in der Vergangenheit verweilen und auf das Negative schauen, sondern sich auf die Zukunft der Betroffenen fokussieren.
Verantwortung gegen Menschenhandel zu übernehmen, beginne beim eigenen Konsumverhalten, erinnert Christina. Es gelte abzuwägen, ob es darum geht, möglichst günstig zu konsumieren, oder ob man sogar mit dem eigenen Konsumverhalten anderen Menschen Würde geben kann, weil sich dadurch ihre Arbeitsbedingungen verbessern. «Wir haben das Gefühl, Menschenhandel passiere nur in einer Parallelwelt, nicht in unserer Umgebung. Aber überleg dir mal, wo du deine Nägel machen lässt. Unter welchen Konditionen wird in diesem Studio gearbeitet? Oder frage dich, mit welchem Blick du auf bettelnde Menschen am Bahnhof schaust.» Das heisse nicht, dass in jedem Fall die Polizei gerufen werden müsse, weil diese Personen von Menschenhandel betroffen sein könnten, erklärt Christina. Die Begegnung sollte vielmehr von Menschlichkeit geprägt sein.
Dafür finde sie auch Hinweise in der Bibel. An vielen Stellen im Buch Jesaja (z. B. Jesaja 1,17) oder in den Sprüchen geht es darum, dass wir uns für Gerechtigkeit einsetzen sollen, uns um Witwen und Waisen kümmern, um die Schwachen in der Gesellschaft. Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind, steht in Sprüche 31,8. «Ich habe mich intensiv mit diesen Textpassagen auseinandergesetzt und mir überlegt, warum das damals so wichtig war. Witwen und Waisen fielen damals durch das soziale System. Der Mann war der Versorger. Wenn er starb, brach einem der Boden unter den Füssen weg.» In unserer heutigen Gesellschaft sind Menschen besser geschützt und werden von sozialen und staatlichen Systemen unterstützt. Darum fragt sich Christina: «Wer sind unsere heutigen Witwen und Waisen? Sind es nicht Menschen wie Mihaela? Menschen, die schutzlos sind, durch das System fallen und nicht gesehen werden. Als Christinnen und Christen haben wir aus meiner Sicht den klaren Auftrag, uns um diese Menschen zu kümmern.»
Lona Project setzt sich für Personen ein, die von Menschenhandel betroffen sind. Durch Präventionsprojekte und Workshops in Kirchen und Schulen sensibilisiert und unterstützt Lona Project gefährdete Menschen u. a. in Südosteuropa. Das Ministry von Campus für Christus Schweiz befähigt Menschen vor Ort für Präventionsarbeit und schult im Umgangmit Betroffenen.

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