Bleiben oder gehen?

von Tiago Gysel

Tiago Gysels Grosseltern Helma und Daniel leben seit jeher in Brasilien. Der Rest der Familie ist in der Schweiz daheim, dem Land, mit dem sich seine Grosseltern aufgrund ihrer Herkunft immer schon verbunden fühlten. Nun haben sie sich eine Woh nung in der Schweiz gekauft, und seit her bewegt sie die Frage, wann es Zeit wird, die Zelte in Brasilien endgültig abzubrechen.

02.07.2025

HELMA UND DANIEL HALLER IM INTERVIEW

Vovô und Vovó, wo fühlt ihr euch zuhause?

Daniel: Das ist keine leichte Frage. Ich würde sagen, auf beiden Seiten des Ozeans. Wir haben in Brasilien sowie in der Schweiz Freunde und Verwandtschaft, die wir liebhaben.

Helma: Ich würde eher behaupten, dass wir hier in Brasilien zuhause sind. Aber wie Vovô sagt, ist man da zuhause, wo die Menschen sind, die einem nahestehen. Wir haben unser ganzes Leben hier in Brasilien verbracht und trotzdem fühlen wir uns in der Wohnung in der Schweiz bereits wie zuhause – weil es die Menschen sind, die das «Sich-zuhause-Fühlen» ausmachen. Natürlich fehlt dort noch etwas die persönliche Note, aber das wird mit der Zeit kommen.

Daraus lässt sich doch eine Formel ableiten: Heimat = Freunde + Familie + Wohnung.

Helma: Ich würde die Familie an die erste Stelle setzen.

Daniel: Die Formel stimmt für mich, da habe ich nicht viel auszusetzen.

Hattet ihr schon immer das Gefühl, an zwei Orten auf der Welt zuhause zu sein?

Daniel: Naja, bis zu unserem Wohnungskauf vor einem Jahr waren wir in der Schweiz immer nur zu Gast. Das ist natürlich nicht dasselbe Gefühl wie jetzt, wo wir eine eigene Wohnung haben, in die wir uns zurückziehen und in der wir uns einfach auf die Couch hinfläzen können.

Helma: Wir haben diese Spannung aber immer schon gespürt. Obwohl wir stets hier in Brasilien gelebt haben, sind wir ganz und gar europäisch geprägt.

1982 habt ihr zum ersten Mal gemeinsam mit euren Kin dern die Schweiz besucht. Fühlte sich das wie ein Nachhausekommen an?

Helma: Nicht wirklich. Aber als wir beim Wandern das Berner Oberland mit eigenen Augen sehen durften, überstieg die wunderschöne Natur jegliche Vorstellung, die ich bis dahin gehabt hatte. Plötzlich wurden alle Geschichten und Jugendbücher, die ich einst gelesen hatte – wie z. B. Heidi –, lebendig. Das war ein kolossales Erlebnis.

Daniel: Mir ging es ähnlich. Plötzlich wurde dieses Land, von dem ich schon so viel gehört hatte, real. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt viele Gefühle in mir, aber keines davon war ein Heimatgefühl.

Welche Folgen hatte dieser Besuch für euch?

Daniel: Das war an erster Stelle für unsere Kinder ausschlaggebend. Unsere Tochter Monika reiste mit 18 Jahren in die Schweiz, um ein Jahr dort zu bleiben. Daraus wurde ein lebenslanger Aufenthalt, nachdem sie dort ihren Mann kennengelernt hatte.

Helma: Seit diesem Besuch ist unsere Verbundenheit und dadurch auch das Heimatgefühl für die Schweiz stetig gewachsen.

Ist Zwiespalt das richtige Wort, um euer Leben zwischen zwei Welten zu beschreiben?

Daniel: Da ist schon etwas dran, es hat seinen Preis. Wenn du an einem Ort bist, fehlt dir etwas aus der anderen Heimat und umgekehrt. Ich glaube, dieser Zwiespalt ist etwas, das jeder Auswanderer kennt.

Helma: Und sogar deren Nachkommen. Ich bin ja in Brasilien geboren und spüre trotzdem dieses Gefühl, an beiden Orten zuhause zu sein und doch nicht ganz dazuzugehören. Ich würde es allerdings eher als Ambivalenz beschreiben.

Ambivalenz also. Hilft euch euer Glaube dabei, mit dieser klarzukommen?

Helma: Jesus sagt uns in der Bibel: Wir sind in der Welt, aber nicht von dieser Welt – jeder Christ kennt diese Ambivalenz. Das lässt sich auch in unsere Realität übertragen.

Ihr steht mitten im Prozess, endgültig nach Europa zu ziehen. Wo steht ihr da aktuell?

Daniel: Die Frage stelle ich mir immer wieder selbst. Was hemmt uns denn, endgültig in die Schweiz zu kommen? Ein Grund ist sicherlich, dass ich trotz Pensionsalter in der bisherigen Firma weiterarbeiten kann.

Helma: Ich wäre schon jetzt bereit für den Umzug. Es gibt verschiedene Tätigkeitsbereiche in der Schweiz, in die ich mich gerne einbringen würde. Ausserdem sind wir jetzt noch fit genug, um Freundschaften zu schliessen und Neues anzugehen.

Daniel: Es ist eine Frage der Zeit. Aktuell warten wir noch auf grünes Licht, eine innere Ruhe, ein Zeichen von Gott, das sagt: «Jetzt ist es Zeit.»

Helma: Das ist aber keine Last. Wir danken Gott jeden Tag, dass wir das Vorrecht haben, uns in zwei Welten zuhause zu fühlen. Dieser ganze Prozess bis hierhin ist so reibungslos und ruhig verlaufen, dass wir nur staunen können. Deshalb sind wir auch getrost und wissen, dass wir es merken werden, wenn der Zeitpunkt kommt.

Habt ihr die Optionen einander gegenübergestellt?

Helma: Es gibt auf beiden Seiten positive und negative Aspekte. Irgendwann muss man sich einfach entscheiden. Und wenn man sich für etwas entscheidet, muss man etwas anderes loslassen. Das hat sich uns in verschiedenen Lebensbereichen gezeigt.

Hat sich diese Veränderung schon länger angebahnt oder ist der Gedanke daran erst in den letzten Jahren aufgekommen?

Helma: Wir haben vor 30 Jahren schon mal mit demselben Gedanken gespielt. Daniel hatte sich auf eine Stelle in der Schweiz beworben und den Vertrag bereits unterschrieben, um sich dann noch ein letztes Mal mit mir, die in Brasilien auf Bescheid wartete, abzusprechen. Ich war damals schon risikofreudiger als er und wäre bereit gewesen, unsere Zelte abzubrechen. Am Ende erhielt Daniel aber erneut ein Angebot von seinem bisherigen Arbeitgeber, das uns in Brasilien behielt.

Daniel: Ich weiss noch, wie ich damals sehr viel gebetet und trotzdem keine klare Antwort erhalten habe. Das war für mich frustrierend, weil Gott dazu einfach schwieg. Heute denke ich, dass beide Wege wohl gesegnet gewesen wären.

Was werdet ihr loslassen müssen?

Helma: Ich habe hier in Brasilien ein gutes Klavier, welches mich mein Leben lang als Dirigentin und Musikerin begleitet hat. Als wir vor 28 Jahren unsere Wohnung in Brasilien kaufen wollten, entschieden wir uns erst final, als Daniel ausgemessen hatte, ob mein Klavier in den Lift unseres Hochhauses passte. In der Schweiz werde ich nie ein so gutes Klavier besitzen. Das ist etwas, das ich einfach in Kauf nehmen muss.

Wie bewusst gestaltet ihr diese Phase des Übergangs?

Daniel: Wir beten jeden Tag dafür, dass Gott uns den richtigen Moment zeigen wird. Ein klares Zeichen wäre zum Beispiel, wenn mein Arbeitgeber mir mitteilen würde, dass es für mich an der Zeit ist, mich auszuruhen. Dieser Moment kann aber auch ganz anders aussehen. Ich weiss nicht, was Gott vorhat. Aber wir sind gespannt, was er uns noch zeigen möchte.

Wie begegnet euch Gott in dieser Phase?

Daniel: Immer wieder. Zum Teil in sehr irdischen Themen, die für uns aber ein klarer Fingerzeig Gottes sind.

Wie sieht so ein Fingerzeig aus?

Daniel: Zum Beispiel, wie wir zu unserer Schweizer Wohnung gekommen sind. Das war die letzte freistehende Option in der Überbauung. Sie war monatelang ausgeschrieben. Unterdessen prüften wir viele andere Möglichkeiten, die zum Teil älter waren und eine Renovation bedingt hätten. Am Ende dachten wir nochmals an diese Wohnung zurück, die erstaunlicherweise immer noch zu haben war, und erhielten eine Zusage. Alle Schritte verliefen so reibungslos. Andere würden wohl behaupten, das sei Zufall – für uns ist es das nicht. Wir merken, dass Gott uns den Weg bereitet, die Türen öffnet oder schliesst. Danach richten wir uns.

Habt ihr euch auch schon überlegt, dass ihr zu alt für einen solch grossen Schritt seid?

Helma: Für mich spielt das Alter keine Rolle. Daniel sagt öfter mal, dass man einen alten Baum nicht verpflanzen soll. Vielleicht mache ich mir auch etwas vor. Solange wir fit sind, um neue Freundschaften zu schliessen und woanders Fuss zu fassen, sollen wir das tun. Was mich aktuell am meisten beschäftigt, ist das Aufräumen und Sortieren. Nach 55 Jahren Ehe und zwei Karrieren staut sich einiges an. Allein, was ich an Partituren in meinem Schrank habe …

Daniel: Die werden wir bestimmt nicht alle mitnehmen können!

Helma: Dieses Sortieren ist Teil meines Übergangs. Das ist keine leichte Phase, wenn man sich von Dingen verabschieden muss, die man nicht mehr braucht. Ich verbinde wertvolle Erinnerungen mit diesen Partituren. Jetzt landen sie im Altpapier. Und doch ist es ein gesunder Prozess, wenn man das selbst noch entscheiden kann.

Wie können wir Übergangsphasen erfolgreich meistern?

Helma: Indem wir nicht zu viel Angst vor Neuem haben. Gott hat so viele Überraschungen für uns bereit und meint es so gut mit uns! Die Angst sollte uns nicht daran hindern, neue Schritte zu wagen.

Daniel: Suche den Frieden. Das sollte unsere Richtlinie sein. Solange man innerlich nicht zur Ruhe kommt, stimmt irgendwas nicht. Dann sollte man besser abwarten und weiter beten, dass Gott einem den Weg zeigt. Wenn es so weit ist, wird sich der innere Frieden einstellen.

Helmas Familie emigrierte 1928 aus Berlin in den Süden Brasiliens. 22 Jahre später kam Helma zur Welt. Sie war lange als professionelle Musikerin und Dirigentin auf der ganzen Welt unterwegs. Daniel kam 1950 als Vierjähriger nach Brasilien. Seine Familie liess ihre Heimat in Colombier (NE) zurück. Als Ingenieur arbeitete er an vielen baulichen Grossprojekten in ganz Brasilien mit. Beide lieben das Wandern in den Schweizer Alpen und sind fanatische Bücherwürmer.

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Interview // Tiago Gysel Er ist der neue Zuwachs des Redaktionsteams und arbeitet hauptberuflich bei Central Arts. Der Doppelbürger stellt an sich selbst fest, wie sich die kulturelle Identität mit zwei Heimatländern immer weiterentwickelt.
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