Die über die Schwelle helfen

von Nicole Schröder

Ein Kind gebären, eine Ehe eingehen, einen geliebten Menschen für immer loslassen – an diesen Schwellen stehen die wenigsten von uns zahlreiche Male im Leben. Nicole Schröder hat mit drei Frauen gesprochen, für die Geburten, Eheschliessungen und Beerdigungen zum Alltag gehören.

26.06.2025
Mira Ungewitter, Anna Ehlebracht und Annette Süß begleiten als Traurednerin, Hebamme und Trauerrednerin in den emotionalsten Momenten: wenn zwei Menschen einander das Ja-Wort geben, wenn ein Kind zur Welt kommt oder wenn eine Person den Lauf vollendet. Sie helfen da, wo es eine Schwelle zu übertreten gilt, an den ganz grossen Übergängen im Leben eines Menschen. Was sind ihre Erfahrungen, was geben sie Menschen an die Hand und was können wir von ihnen lernen?

Die am Anfang zur Seite steht

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs steht Anna gerade selbst vor einem Übergang: Nach einer sechsmonatigen Bibelschule in Norwegen geht es für sie zurück in den Alltag in der Schweiz, wo sie studiert hat und seit zwei Jahren als Hebamme arbeitet. Die 26-Jährige ist Teil eines Teams von rund 40 Hebammen und hat bisher etwa 200 Geburten betreut. Sie liebt ihren Beruf, weil sie so nah an den Menschen dran ist, schätzt die Intensität und Intimität. An die erste Geburt, die sie als Hebamme begleitet hat, erinnert sie sich gut: «Ich habe geweint.» Plötzlich ist Realität, was die Eltern erhofft haben, etwas Neues bricht an und wird greifbar. «Das ist überwältigend.»

Sie sind fasziniert, wie jeder Finger, jedes Detail an ihrem Kind geworden ist – ohne dass sie da ­rauf wirklich Einfluss nehmen konnten.

Wie jede Hebamme erlebt Anna immer wieder, dass nicht alles glatt über die Bühne geht. Es gibt schwierige Verläufe und Eltern, die ihr Kind verlieren. Anna ist froh, dass sie solche Situationen im Gebet an Gott abgeben kann. Ihr Glaube gibt ihr Halt und hilft ihr, zu verarbeiten. «Eine Geburt kann werdenden Eltern Angst machen, und Angst verursacht Unsicherheit.» Annas wichtigstes Anliegen ist es, Sicherheit zu vermitteln – sowohl in Geburtsvorbereitungskursen als auch im Gebärsaal. Das tut sie oftmals nonverbal, indem sie beispielsweise Blickkontakt aufnimmt. Ab dem ersten Moment ist sie die Kontaktperson und nimmt sich so viel Zeit wie nur möglich. Humor und Körperkontakt setzt sie bewusst ein, um Geborgenheit zu vermitteln. Dabei ist Anna auf eine gute Menschenkenntnis angewiesen, denn jede Frau, jeder Mann, jedes Paar reagiert anders in der herausfordernden Situation, die eine Geburt nun einmal darstellt. «Manche Frauen und Paare brauchen schon im Vorfeld viele Informationen, andere sind besser beraten, wenn sie sich nicht so viele Gedanken machen. In jedem Fall ist es gut, wenn die Frau von sich sagen kann: ‹Ich kann das, ich schaffe das.›» Anna sorgt dafür, dass das nötige Vertrauen da ist. Denn: «Eine Gebärende muss die eigenen Vorstellungen los- und sich auf die natürlichen Abläufe einlassen. Männer haben teilweise enormen Respekt vor einer Geburt oder sind überfordert. Ihnen vermittle ich: Du darfst zurücktreten, du darfst auch mal eine Pause machen.»

Die intensivste Phase einer Geburt ist in der Regel die Übergangsphase, die auf die Eröffnungsphase folgt. In diesem Abschnitt ist Teamarbeit gefragt. Anna sieht ihre Aufgabe darin, die Frau zu ermutigen, wie eine Marathonläuferin, die bald ins Ziel einlaufen wird. Wenn die frischgebackenen Eltern ihr Baby schliesslich in den Armen halten, hört Anna ein Wort auffällig oft: Wunder. «Sie sind fasziniert, wie jeder Finger, jedes Detail an ihrem Kind geworden ist – ohne dass sie darauf wirklich Einfluss nehmen konnten. Da ist mit einem Mal eine ganz besondere, intensive Liebe zu diesem neuen Menschen.» Ist das der Moment, in dem eine Frau zur Mutter, ein Mann zum Vater wird? Das sei meistens ein Prozess, der bereits während der Schwangerschaft beginnt, sagt Anna und betont: «Wenn Paare diese Zeit nutzen, um sich auf ihre neue Rolle vorzubereiten, ist der Übergang geschmeidiger.»

Die dem Ja einen feierlichen Rahmen gibt

Mira tanzt auf mehreren Hochzeiten: Als freikirchliche Pastorin verheiratet sie Paare im gottesdienstlichen Rahmen, für freie Trauungen ist sie aber ebenso zu haben. In beiden Fällen begleitet sie zwei Menschen, geht ein Stück Lebensweg mit. Und wird dabei zu einer Art Verbündeten.

Dass der Start ins Eheleben meist freudig erwartet wird, liegt auf der Hand. Zwei Menschen sagen vor Familie und Freunden Ja zueinander und markieren damit sowohl einen Höhepunkt in ihrem gemeinsamen Leben als auch den Beginn eines neuen Abschnitts – voller Hoffnung, dass die Ehe gelingen wird. In ihrem Buch «Gott ist Feministin» beschreibt Mira in grossem Detail eine überaus festliche Zeremonie und wie sie sich auf die Trauung vorbereitet hat. Sie findet es wichtig, dass eine Eheschliessung eine deutliche Unterbrechung des Alltags darstellt. Ein würdevolles Ambiente soll sie haben und sowohl einen feierlichen als auch einen öffentlichen Charakter. Mira räumt ein, dass eine Hochzeit durch die Idee vom perfekten Fest, an dem alles rund läuft, zur Bürde werden kann, und ergänzt: «Ein Tag kann auch perfekt sein, wenn er ganz unperfekt ist.» Das Bild vom sicheren Hafen, in den die Ehepartner segeln, würde Mira umkehren: «Die Hochzeit ist nicht der Zielpunkt. Da geht es erst richtig los!» Am Tag der Trauung endet zwar die vielleicht unsichere oder stürmische Phase des Kennenlernens, und eine neue Reise beginnt, aber: «Ich will mit der Person hinaussegeln, in die Welt reisen.» Um Sicherheit geht es aber dann doch: Wie Anna sieht auch Mira ihre Hauptaufgabe darin, diese zu vermitteln. «Das kriegen wir hin und das wird schön», versichert sie den Paaren, die sie begleitet. Manchmal ist sie als Traurednerin verantwortlich für die komplette Zeremonie. Es kann aber auch sein, dass sie nur den Part der Traurede oder -predigt übernimmt. Unabhängig vom Kontext und davon, was ihre Rolle jeweils beinhaltet, lässt Mira bei jeder Trauung ihren christlichen Glauben einfliessen, z. B. durch ein Bibelwort oder einen Segen, die sie behutsam in ihre Rede integriert.

Ein Tag kann auch perfekt sein, wenn er ganz unperfekt ist.

Miras Arbeit hat auch eine seelsorgerliche Komponente: «Bei einer Hochzeit kommen viele Emotionen hoch, die ganze Wucht an Konflikten oder Ängsten.» Auch solche Themen haben neben der Liebesgeschichte Platz in den Vorgesprächen, die Mira mit den Paaren führt. «Gerade bei Paaren, die einiges an Lebenserfahrung mitbringen, ist es mir wichtig, einzubeziehen und zu würdigen, was bereits war: Brüche, schwierige Zeiten oder die Trauer um den verstorbenen Vater.» Wenn eine Braut oder ein Bräutigam es wünschen, flechtet Mira mit viel Fingerspitzengefühl auch Schweres in ihre Ansprache ein. Bauchschmerzen bereitet es ihr zuweilen, wenn sehr junge Paare mit ihrer Hochzeit gleich mehrere Übergänge parallel und von heute auf morgen zu bewältigen haben: «Das ist oft eine Überforderung.» Hohe Erwartungen sowohl an das Hochzeitsfest als auch an das anschliessende gemeinsame Leben steigern den Druck zusätzlich. Paaren Kommunikations- und Reflexionstools mitzugeben, könnte aus Miras Sicht helfen. Sie stellt fest: «Paare, die Übergänge fliessend gestalten und sich eingestehen, dass manches nicht von heute auf morgen geht, starten oft gelassener ins Eheleben.» So unterschiedlich die Paare, ihre Voraussetzungen und Vorstellungen auch sind – Miras Hoffnung ist jeweils, dass sie sich am Übergang ins Eheleben von ihr gut begleitet fühlen.

Die am Ende und darüber hinaus begleitet

Annette hätte sich nie träumen lassen, dass sie nach 17 Jahren ihren sicheren Job im Rathaus an den Nagel hängen und sich als freie Trauerrednerin selbständig machen würde. Aber genau das hat sie getan und nie bereut: Seit sechs Jahren gestaltet sie Beerdigungen, rund 130 im Jahr.

Sie ist Zeremonienmeisterin, d. h. sie begleitet die Zeremonie der (Lebens-)Abschiedsfeier. Von einer Trauerfeier spricht Annette bewusst nicht, denn: «Trauer ist nicht alles. Es gibt viel mehr Gefühle.» Menschen nach dem Verlust eines Angehörigen zu begleiten, ist ihr Herzensanliegen. Sie hat darin ihre Berufung gefunden. Der Weg dahin führte über zwei schmerzhafte Erfahrungen. 1999 verlor eine gute Freundin ihren 15-jährigen Sohn, was Annette sehr mitnahm. Die Frauen kannten sich vom Mütterkreis in der Gemeinde, ihre Söhne waren zusammen aufgewachsen. Es war das erste Mal, dass sie mit dem Thema Sterben direkt konfrontiert wurde. Danach hat es sie nie wieder losgelassen. Sie machte eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin, um Menschen auf ihrem letzten Weg im Hospiz zu begleiten. Eine weitere tragische Situation in ihrer eigenen Familie gab den Ausschlag für eine Ausbildung zur kirchlichen Notfallseelsorgerin. In dieser Rolle nahm sie regelmässig an Beerdigungen teil und in ihr wuchs das Bedürfnis, selbst Trauerfeiern zu gestalten.

Bei unserem Gespräch ist sie in Gedanken noch bei ihrem letzten Einsatz als ehrenamtliche Notfallseelsorgerin. Nach einem Strassenbahn unglück mit drei Toten und zahlreichen Verletzten leitete sie einen zehnstündigen Einsatz. Ohne ihren Glauben könne sie ihren Job und ihr Ehrenamt nicht ausüben, betont sie. «Gott, du hast diese Situation zugelassen, dann trag mich und alle Beteiligten auch durch», betet sie oft und weiss sich geerdet. Sie ist in ihrer Region weit und breit die einzige Trauerrednerin, die gläubig ist. Die Menschen, die sie beauftragen, stehen der Kirche bzw. dem Glauben mehrheitlich eher fern. Das Erste, was sie im Angehörigengespräch fragt, ist: «Glauben Sie, dass es etwas gibt nach diesem Leben hier?» In den vergangenen sechs Jahren haben gerade einmal eine Handvoll Menschen geantwortet: «Ich glaube nichts. Wir leben, wir sterben und dann sind wir weg.» Dass sie ein Kind Gottes ist und von ihm ihre Kraft bezieht, daraus macht Annette keinen Hehl. «Ich hau den Leuten das Evangelium nicht um die Ohren», betont sie. Oft wollten die Leute aber wissen, was sie als Expertin glaubt. «Dann packe ich aus.» Die Zeit zwischen Tod und Beerdigung bezeichnet sie als Schleusenzeit, sich selbst als Schleusenwärterin. Diese Phase, eine Zeit zwischen Himmel und Erde, sei die allerwichtigste im Hinblick auf die Trauer, die danach kommt. «Nutze die Schleusenzeit bewusst», rät sie Trauernden, weil sie weiss: Der Weg durch die Trauer wird dann leichter. Sie betont, wie wichtig es ist, sich von der äusseren Hülle zu verabschieden. Anfassen, erleben, wie der Körper kalt wird, die verstorbene Person waschen oder anziehen – Körperkontakt helfe tatsächlich, das Unbegreifliche besser zu begreifen.

Diese Phase, eine Zeit zwischen Himmel und Erde, ist die allerwichtigste im Hinblick auf die Trauer, die danach kommt.

In ihrer Zeit als Sterbebegleiterin hat Annette erlebt, dass Sterbenden die Ungewissheit besonders zu schaffen macht. Dass sie nicht wissen, was auf sie zukommt, macht Angst und erschwert das Loslassen. Ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Ruhe konnte Annette oftmals ohne Worte stillen, indem sie einfach nur an ihrem Bett sass. Trauernde kämpften oft mit ambivalenten Gefühlen. Beispielsweise ist da einerseits Erleichterung über das Ende einer Krankheit und andererseits Schmerz, weil die verstorbene Person fehlt. Annette hilft, die Ambivalenz wahrzunehmen und sich zuzugestehen, dass beides sein darf. Was sie auch in der Regel im Gespräch aufzeigt, ist, dass Trauer Zeit braucht und individuell ist. Die Trauer verändert sich im Laufe der Jahre, man lernt damit zu leben und umzugehen. Den Trauerprozess vergleicht sie mit einem Labyrinth, in dem man sich ständig bewegen sollte, um weiter in Richtung Ziel zu kommen. Das kann auch heissen, dankbar zurückzublicken auf das, was schön war. Alles, nur nicht stehenbleiben, denn: «Wer in der Trauer stagniert, wird krank». Manche Menschen hätten Schuldgefühle oder wollten wegen ungelöster Konflikte nicht anschauen, was war. Andere fühlten sich in ihrer Opferrolle wohl und suhlten sich in der Trauer. Dann brauche es therapeutische Hilfe. Annette ist da ganz realistisch: «Ich kann die Welt nicht retten. Das hat ein anderer getan.»

Anna Ehlebracht, Jahrgang 1998, lebt in Winterthur, liebt es, draussen in der Natur zu sein und hält Momente gerne mit ihrer Kamera fest.

instagram.com/annalogianna

Mira Ungewitter, Jahrgang 1985, lebt in Wien. Sie ist Pastorin bei der projekt:gemeinde und macht gerne Roadtrips mit ihrem VW-Bus.

instagram.com/miraungewitter

Annette Süß, Jahrgang 1964, lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Karlsruhe. Eines ihrer drei Enkelkinder starb kurz nach der Geburt.
trauerrednerinannettesuess.de

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Text // Nicole Schröder Wenn sie nicht für das Amen Magazin schreibt, organisiert oder Ideen spinnt, ist sie als bildende Künstlerin tätig. In diesem Jahr hat sie zum ersten Mal einen Sarg bemalt.
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