Ich frage, also lerne ich

von Nicole Schröder

Die Ausstellung «Glaube, Macht, Wissen» im Kloster Wettingen überrascht. Zumindest wenn man hinter der schweren Holztür lehrreiche Texte und Exponate erwartet. Stattdessen wimmelt es im ehemaligen Parlatorium der Wettinger Zisterziensermönche nur so von Fragen und Fragezeichen. Antworten sucht man vergeblich.

04.03.2024

Es regnet in Strömen, als ich mit einer modernen Schlüsselkarte die uralte Holztür öffne, die vom Innenhof des ehemaligen Zisterzienserklosters auf der Klosterhalbinsel in Wettingen in die Ausstellung «Glaube, Macht, Wissen» führt. Heute drücken in den historischen Gebäuden rund 1000 Schülerinnen und Schüler der Kantonsschule die Schulbank. Sie huschen an mir vorbei, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, während ich die Karte auf den Sensor lege. Ich weiss, was mich gleich erwartet: das langgezogene Parlatorium mit dem schlichten Deckengewölbe und das kleinere fensterlose Observatorium nebenan. Heute habe ich beide für mich allein. 

 

Im Wald der Fragen

Ich beginne meinen Rundgang im Archiv der Fragen, dem Herzstück des Parlatoriums. Es ist ein Raum im Raum, eine lichtdurchlässige Holzkonstruktion mit zwei Ein- bzw. Ausgängen. Ich trete ein und stehe in einem Wald aus Fragen. Dunkel gebeizte Holzschilder mit je einer Frage in weissen Lettern hängen an Zapfen. Für die untersten muss ich mich bücken, für die obersten steht ein Schemel bereit. Jede Frage ist eine Einladung, erfahre ich. 

«Von Anfang an war klar, dass es im Parlatorium keine klassische Museumsausstellung geben soll. Das Parlatorium wurde etwa um 1600 erbaut. Hier verrichteten die Mönche ihre Arbeiten. In diesem Raum war, anders als in anderen Bereichen der Klausur, das Sprechen erlaubt. Später, zur Zeit des Lehrerseminars, war das Parlatorium ein Aufenthaltsraum, in dem ebenfalls diskutiert wurde. Diese Raumgeschichte wurde für die Konzipierung des Museums aufgegriffen.» (Museum Aargau.)

Die Ausstellung lädt ein zum Gespräch und zu einer vertieften Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen, die im Spannungsfeld zwischen Wissen und Glaube angesiedelt sind. Die Fragen dienen als Ausgangspunkte für Gedanken, Gespräche und die Suche nach Antworten zu den Themenbereichen Glaube, Macht und Wissen. Ich bin eingeladen, die Schilder in die Hand zu nehmen und neu anzuordnen. Ohne zu zögern, mache ich mich an die Arbeit, wähle Fragen aus, sortiere und gruppiere. Vor meinen Augen entsteht eine von mir persönlich kuratierte kleine Ausstellung von Fragen zum Thema Wissen und Lernen.

 

Wer nicht fragt …

«Welche Frage ist die wichtigste?» steht auf einem der Schilder. Ich entscheide mich für die folgende: «Komme ich durch Lernen ans Ziel?» Ich will sehen, wie Besucherinnen und Besucher auf die Frage reagiert haben. Dazu nehme ich die Fragetafel von der Wand und platziere sie auf ein markiertes Feld an der Station «Kommentare». Im selben Moment erscheint meine Frage auf einem grossen Bildschirm an der Wand. «Mit jeder Erfahrung lerne ich für künftige Ereignisse und Probleme dazu», schrieb mk. «Welches Ziel ist gemeint?» tippe ich in das Kommentarfeld. Und schiebe gleich noch eine Frage hinterher: «Lerne ich dadurch, dass ich Fragen stelle?» Die Frage drängt sich mir förmlich auf an diesem Ort, an dem seit Jahrhunderten Wissen weitergegeben wird. Kann es sein, dass Lernende von Fragen mehr profitieren als von Antworten? 

Meine neue Frage schreibe ich an der Station «Teilen» auf ein schwarzes Kartonschild und fotografiere mich damit. Zack, erscheint mein Selfie neben den Selbstportraits anderer Besucherinnen und Besucher, die jeweils auch eine Frage in die Kamera halten. Ich zücke noch einmal den weissen Stift und betätige den Auslöser: «Lernen wir unser Leben lang?» Es ist ein gutes Gefühl, meine Fragen in den Raum zu stellen. Weniger gut fühlt es sich an, mit meinen Fragen allein zu bleiben, keine Antworten zu erhalten. Ich erinnere mich, dass bei einem vorigen Besuch meine Begleitung den Raum gar nicht mochte, sich regelrecht erdrückt fühlte von der Fragenflut. Weil ich an diesem verregneten Dienstag im November, an dem es nicht so richtig hell werden will, die einzige Besucherin bin, muss ich aushalten, dass eine Reaktion vorerst ausbleibt. 

 

Fragen über Fragen

Die vielen Fragen werden mir zur Frage. Sie sollen «die Besucherinnen und Besucher anregen, über sich selbst und die eigene Einstellung zum Leben, zum Tod, zum Universum, zur Religion, zu Macht und zum Umgang mit Wissen nachzudenken. Es sind keine Wissensfragen. Somit ist keine Antwort falsch, alle sind richtig.» (Museum Aargau.) Ein Dialog soll angeregt werden, erfahre ich auf der Website. Was aber, wenn kein Gespräch entsteht? Ist eine Frage an sich schon wertvoll, und bringt sie uns auch ohne eine Antwort weiter? Was kann eine Frage, was eine Antwort nicht kann? Welchen Beitrag können Fragen heute leisten? Braucht es sie mehr denn je? Wo wir doch mit ein paar Klicks unendlich viele potenzielle Antworten abrufen können. Kann es sein, dass das Überangebot an Information eine Kultur des Fragens und Hinterfragens geradezu verlangt? Wie helfen Fragen uns dabei, zu lernen, uns zu orientieren? Dienen sie dazu, unsere Neugier und Lernfreude anzuregen? Welchen Einfluss haben Fragen auf Wissens- und Erkenntniszuwachs? Sind Fragen der beste Weg, Wissen zu konstruieren? Meine Neugier ist geweckt.

 

Ab ins Land der Antworten

Zu Hause am Schreibtisch beginne ich, zu tippen. Suchmaschine auf, Frage rein. Die Eingabe «Frage Kloster» im Suchfeld führt leider nur zu Interviews über den Zölibat und die Herausforderungen des Klosterlebens. Bald lande ich aber bei den Scholastikern im Mittelalter. Fragen können uns helfen, Dinge zu begreifen, Wissen zu vertiefen, davon waren sie überzeugt. Die Namen Sokrates und Plato ploppen auf. Schon für sie hatten Fragen eine zentrale Bedeutung, erfahre ich. Da kommt mir in den Sinn, dass es im Judentum eine Kultur des Fragens gibt. Ein paar Klicks weiter lese ich, dass Talmud-Schüler lernen, gute Fragen zu stellen. Das bringt mich direkt zu Jesus Christus. Stellte er nicht auch unfassbar viele Fragen? 

 

Jesus is the Question

Zurück zur Suchmaschine. «Fragen Jesu» tippe ich. Ich muss es anders formulieren: «Wie viele Fragen stellte Jesus?». Ich lande wieder nur bei Fragen an Gott, bei Fragen über den Glauben. Ich frage auf Englisch «How many questions did Jesus ask?» und werde fündig. Man muss nur richtig fragen. 

Über 300 Fragen Jesu werden in den Evangelien überliefert, ergibt meine Recherche. Liebst du mich? (Johannes 21,15 ff.) oder Was sagt ihr, wer ich sei? (Matthäus 16,15) kommen mir als erstes in den Sinn. Fragen, die Menschen an ihn richteten, beantwortete er selten direkt. Um genau zu sein: Er beantwortete gerade mal 3 von 187 Fragen. «Jesus, warum hast du so viele Fragen gestellt?» Sicherlich nicht, weil er auf Antworten aus war oder unser Wissen überprüfen wollte. Aber warum dann? 

 

Warum Fragen? 

Fragen stossen Denkprozesse an, bringen uns weiter. Sie können an uns nagen, uns aufwühlen und verunsichern. Uns den Schlaf rauben. Fragen haben das Potenzial, uns in Bewegung zu setzen. Jesu Fragen liessen aufhorchen, provozierten, forderten heraus, trafen ins Mark. Er machte es seinen Zuhörerinnen und Zuhörern nicht leicht: Indem er Fragen stellte, spielte er ihnen den Ball zu. Er nahm ihnen die Antwort bzw. die Suche nach einer Antwort nicht ab. Offensichtlich sollten sie sich selbst aufmachen und zu ihren eigenen Schlüssen kommen. Macht das (Jesu) Fragen so besonders? Dass die Verantwortung ganz bei uns ist und bleibt? Dass wir uns nicht zurücklehnen und bequem konsumieren können? Dass sie uns aktivieren und uns Freiheit lassen?

Ich beschliesse, es vorerst dabei zu belassen. Ganz im Stil der Ausstellung lasse ich die Fragen genüsslich weiter in mir nachhallen und ihre Wirkung entfalten. «Unser Leben kommt einem nie versiegenden Fluss an Fragen gleich», stand auf einer der Ausstellungstafeln. Let it flow. Ich bin dabei.

 

Über die Ausstellung

Die Klosterhalbinsel Wettingen ist einer von zehn Standorten von Museum Aargau. Die Dauerausstellung «Glaube, Macht, Wissen» ist im ehemaligen Parlatorium und im Observatorium untergebracht. Entstanden ist die Ausstellung in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern der Kantonsschule. Im Zentrum steht ein Archiv mit ca. 300 Fragen. Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, weitere Fragen zu stellen und an die nächsten Besuchenden weitergeben. Dass zwischen den Schülerinnen und Schülern, die als Hosts im Parlatorium tätig sind, und den Besuchenden ein Dialog entsteht, ist ebenso Teil des Konzepts.

Nach einer Winterpause öffnet das Museum am 29. März 2024.
https://www.museumaargau.ch/klosterhalbinsel-wettingen

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Text // Nicole Schröder Sie ist der Neuzugang in der Amen-Redaktion. Sie mag Museen und ist mit einer ordentlichen Portion Neugier unterwegs. Fragen beantwortet sie gerne mit einer Gegenfrage.
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