Leben im Angesicht Gottes

von Peter Höhn

Gott sieht uns, er schaut uns zu bei allem, was wir tun, dies jedoch weder voyeuristisch noch mit strenger Miene. Vielmehr ist er uns wohlwollend und freudig zugewandt, und wenn wir seinen Blick annehmen und erwidern, kommt unser Leben zum Blühen und zum Strahlen.

22.08.2022

«Lueg, Grosspapi! Gäll, guet!» Was ich schon als Vater mit unseren Töchtern erlebt habe, feiert mit unseren Enkeln zurzeit wieder Hochkonjunktur: Kopfstand bestaunen, Zeichnungen loben, Kletterkünste begutachten, Theaterstücke beklatschen. Ich bin selbst überrascht und zuweilen fast überfordert von diesem unbändigen Bedürfnis der Kiddies, gesehen zu werden. Erst als Grossvater hat es mir gedämmert: Genau das – dieses Gefühl und dieses Vertrauen, gesehen zu sein – bietet uns der himmlische Vater an. 

 

Sich von Gott ansehen lassen
Wir sollen vertrauen, dass wir von Gott gesehen werden. Wir sind eingeladen, vor seinem Angesicht zu leben. Und wo wir das wagen, werden wir merken, wie menschenfreundlich und gütig er ist (Titus 3,4): Wie er uns dabei hilft, in seinem licht- und liebevollen Blick uns selbst zu erkennen. Wie er uns ermutigt, echt zu werden und als die, die wir sind, in Erscheinung zu treten – und etwas von seiner Herrlichkeit widerzuspiegeln und auszustrahlen.

Martin Buber schrieb: «Man kann glauben, dass Gott ist, und in seinem Rücken leben. Wer ihm vertraut, lebt in seinem Angesicht.» – Die Frage ist: Wo lebe ich aktuell im Hinblick auf Gott, in seinem Rücken oder in seinem Angesicht? Vielleicht kennen wir beides: die kostbaren Momente, in denen wir Gottes Gegenwart spüren und etwas davon wahrnehmen, dass er uns sieht und freundlich ansieht. Andererseits Zeiten, in denen wir Gott den Rücken zugewandt haben, weil wir so völlig mit anderem beschäftigt sind. Mitunter auch die Erfahrung, dass Gott sich scheinbar von uns abgewandt hat und, wie es der Psalmist ausdrückt, sein Angesicht verbirgt (Psalm 13,2; 44,25; 88,15; 104,29 u. a.). 

 

Von Gottes Angesicht erleuchtet
In der Bibel, insbesondere in den Psalmen, gibt es viele Gebete, die an dieses Spannungsfeld zwischen einem Leben im Angesicht bzw. im Rücken Gottes anknüpfen. Sie ermutigen uns bis heute, uns immer neu aufzumachen, um im Gebet Gottes Angesicht zu suchen, zum Beispiel Psalm 27,8: An dein Wort denkt mein Herz: Sucht mein Angesicht. Dein Angesicht, Herr, will ich suchen. Oder Psalm 105,4: Fragt nach dem Herrn und seiner Macht, sucht sein Angesicht allezeit. Denn so sagt es Psalm 16,11: Wenn wir Gottes Angesicht suchen, werden wir erfahren, dass du mir den Weg zum Leben zeigst und dass vor deinem Angesicht Fülle von Freuden ist und Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar.

Andere Gebete zielen darauf ab, dass Gott doch (neu) sein Angesicht über uns leuchten lasse (zum Beispiel Psalm 31,17; 67,2; 80,4.8.20). Dies erinnert an den Aaronitischen Segen, der bis heute am Schluss des Gottesdienstes ausgesprochen wird (4. Mose 4,24-26): Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der HERR erhebe sein Angesicht zu dir und gebe dir Frieden. 

Im Grund ist es zweimal dasselbe mit anderen Worten ausgedrückt: Wo Gott sein Angesicht über uns leuchten lässt, werden wir erleuchtet, werden wir mit seiner Gnade, seiner Güte beschenkt und tauchen ein in seine friedvolle Gegenwart. 

Schliesslich finden wir in den Psalmen auch die Einladung, unsererseits Gottes Blick zu erwidern und auf ihn zu schauen. Dann, so die zugehörige Verheissung, werden wir selbst zum Strahlen kommen, und unser Angesicht wird nicht beschämt werden (Psalm 34,6). Das ist das Gegenteil von jenem unsäglichen Zerrbild des Glaubens, dass Gott vor allem unsere Sünden und Fehler registriert und sofort «straft», wenn wir etwas Verbotenes tun. Dabei ist Gott überhaupt nicht interessiert an unseren Fehlern, er ist interessiert an uns selbst, daran, dass wir zum Leben und zum Blühen kommen und als seine Ebenbilder immer mehr seine Herrlichkeit und Schönheit ausstrahlen. So drückt es Paulus in 2. Korinther 3,18 aus: Wir alle aber schauen mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn an und werden so verwandelt in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht. 

 

Transparenz und Beziehung
Es geht also darum, dass wir beides üben: Gottes Angesicht suchen und ihn mit den Augen des Herzens betrachten, indem wir unser aufgedecktes Gesicht, unsere Wirklichkeit, Gott zuwenden, uns transparent machen. So entsteht Beziehung von Angesicht zu Angesicht – etwas, das ja auch für das Miteinander von Menschen gilt, besonders zwischen Freunden und Liebenden: Das Gesicht, das Einanderanschauen, ist entscheidend. Das Gesicht ist die Schnittstelle zwischen unserem Inneren und Äusseren, und es ist die Schnittstelle in unseren Beziehungen. Erst wo wir einander wohlwollend und ohne Argwohn unser Gesicht (das innere und äussere) zuwenden, entsteht Verbundenheit. Wenn wir einander nicht ansehen und ansehen lassen, werden wir aneinander vorbeireden. 

 

Selbsterkenntnis durch Begegnung
Gleichzeitig entdecken wir in der echten, gegenseitigen Zuwendung ein Stück mehr, wer wir selbst sind, denn: «Der Mensch wird am Du zum Ich.» Martin Bubers berühmter Satz gilt für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, aber sicherlich auch für unser Verhältnis zu Gott. In der Begegnung mit Gott erkenne ich, wer ich bin. Und daraus kann ich entdecken, was Gott von seinem Wesen in mich hineingelegt hat, damit ich es widerspiegle. 

Darum betont Jesus, wenn er über das Gebet spricht, dass wir nicht religiös werden und auch nicht viele Worte machen müssen, sondern darauf achten sollen, dass es zu einer Begegnung mit dem Vater-Gott kommt, im Vertrauen darauf, dass er mich sieht und eingeht auf das, was mich wirklich beschäftigt: Wenn du aber betest, geh in deine Kammer, schliess die Tür und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten (Matthäus 6,6).

 

Sich neu einmitten und fokussieren
Es gibt für diese tägliche Begegnung mit Gott, bei der er mich ansieht und ich ihn anschaue, keinen Ersatz. Gerade in den vergangenen Monaten habe ich diese Erfahrung wieder ganz neu gemacht: Ich kann mir die inspirierendsten Podcasts und Predigten «reinziehen», die spannendsten Bücher lesen, mich «christlich» für alles Mögliche interessieren und engagieren: Wenn es auf Kosten meiner persönlichen Zeit mit Gott geht, wenn es den Platz für das «Suchen seines Angesichtes» und die Begegnung mit ihm einnimmt, zieht es mich früher oder später weg – von Gott und auch von mir selbst. Ich verliere mich. Unmerklich gerate ich aus Gottes Angesicht in seinen Rücken. Statt von Gottes Geist wird mein Inneres bestimmt von all den Dingen, die um Aufmerksamkeit rufen, von Idealbildern dessen, was man als Christ alles tun sollte, sowie von Gefühlen der Überwältigung («es ist mir alles zu viel») und des Nichtgenügens gegenüber all den diffusen Ansprüchen. 

Wenn ich mir andererseits diese (oft so unspektakulär-gewöhnlich sich anfühlenden) Zeiten im stillen Kämmerlein wirklich nehme, mein Herz mit Gott teile, ihm meine leeren Hände und geistliche Armut hinhalte, einen Abschnitt in der Bibel lese und das Wort auf mich wirken lasse, es zum Gebet mache und vielleicht etwas ins Tagebuch schreibe, geschieht es unmerklich und doch spürbar, dass ich wieder eingemittet werde. Dass ich wieder weiss, wer ich bin und wofür ich gesetzt bin (und wofür nicht). Dass wieder Klarheit einzieht und ich getrost loslassen darf, worum ich mich nicht kümmern muss. Aber mit Zuversicht das anpacken kann, was heute dran ist, und was es für mich bedeutet, wenn Jesus sagt: Folge du mir nach (Johannes 21,22).

 

«Sorge für den Input, ich sorge für den Output»
Wenn wir Gottes Liebe in diese Welt ausstrahlen möchten, gibt es nicht viel, zu dem wir nachdrücklicher eingeladen sind, als Gottes uns freundlich zugewandtes Angesicht zu suchen, die Begegnung mit dem Dreieinen, so gut wir können, zu kultivieren – und uns dann einfach davon überraschen zu lassen, was daraus entsteht. Vor vielen Jahren habe ich in der Stille dafür ein schönes Wort, eine Art himmlische Ermutigung, empfangen, als sage Gott: «Peter, sorge du für den Input, ich sorge für den Output! Sorge dafür, dass du diese Zeiten vor meinem Angesicht und in der Begegnung mit mir wirklich nimmst. Dann werde ich dafür sorgen, dass daraus gute Frucht entsteht.» Gott hat Wort gehalten. Aus diesen zweckfreien Zeiten vor seinem Angesicht ist für mein Leben und meinen Dienst so viel Wesentliches geworden, so viel Gutes gewachsen und Unfruchtbares abgefallen – zwar nicht immer sofort und nachvollziehbar, aber doch erstaunlich und eindeutig.

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Text // Peter Höhn
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