Recht haben ist nicht das höchste Ziel

von Sara Stöcklin-Kaldewey

Was ist die richtige, biblische Überzeugung? Was genau muss ich glauben?» Ganz selbstverständlich werden diese Fragen in vielen christlichen Gemeinschaften in den Vordergrund gerückt und entscheiden darüber, wer dazugehört und wer nicht. Was wirklich zählt, droht dabei in den Hintergrund zu geraten.

19.05.2021

Vor etwa sieben Jahren bin ich zusammen mit meinem Mann aus der Freikirche ausgetreten, zu der wir gehörten. Der Abschied war freundschaftlich, aber da wir keinen für die Gemeinde annehmbaren Grund dafür vorweisen konnten – etwa einen Umzug oder eine Weisung von oben – war das Unverständnis seitens der Gemeindeleitung gross. «Welche Überzeugungen könnt ihr denn nicht mehr teilen?», wollte der Pastor wissen. «Woran genau glaubt ihr nicht mehr?» Es gelang uns nicht, ihm verständlich zu machen, dass genau diese Frage das Problem anzeigte. Unser Problem war nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – dass in der Gemeinde die falschen Antworten gepredigt wurden. Unser Problem war, dass Fragen gestellt wurden, die für uns nicht mehr im Vordergrund standen. Vor allem die eine, die in der Predigt, in den Hauskreisen, in der Auseinandersetzung mit der Bibel enorm viel Raum einnahm: «Was ist der richtige Glaube?»

«Was ist der richtige Glaube?»

In der evangelikalen Theologie, mit der ich aufgewachsen bin und die mich bis heute prägt, habe ich diese Frage vielerorts als Leitfrage wahrgenommen: «Was ist die richtige, biblische Überzeugung? Was genau muss ich glauben?» Diese Leitfrage kommt zum Ausdruck in Predigten und Positionspapieren, aber auch in der Themensetzung, in Bewerbungsverfahren, in der Förderung von Mitarbeitenden, in der Gottesdienstgestaltung, in Bündnissen und Partnerschaften, in der theologischen Ausbildung.

Zur Begründung und zur Beantwortung der Leitfrage wird die Bibel in Anspruch genommen. Sie ist das Wort Gottes, unangefochtene Autorität, Richterin über die Rechtgläubigkeit. Sie ist der Massstab, an dem gemessen wird, was richtig ist. Sie liefert die richtigen Antworten, wenn sie richtig gelesen und gedeutet wird. Gleichzeitig wird die Bibel selbst der Leitfrage unterworfen: Welcher Urtext, welche Übersetzung ist die richtige? Welche Deutung ist die richtige? Welches Bibelverständnis ist das richtige? Nur der richtige Umgang mit der Bibel führt zu den wahren Antworten.

Was macht diese Leitfrage – «Was ist der richtige Glaube?» – so attraktiv, dass christliche Strömungen immer wieder von ihr eingenommen werden? Was ist so bestechend an ihr, dass sie auch in der postmodernen Gesellschaft zur DNA evangelikaler Gemeinden gehört? Sie vermittelt uns ein Gefühl der Sicherheit. Wir wollen auf ein stabiles Fundament bauen, unsere Überzeugungen von einer übergeordneten Instanz beglaubigt wissen und nicht von Gefühlen, Trends, gesellschaftlichen Entwicklungen und subjektiven Erfahrungen. Wir fürchten Willkür, Unverbindlichkeit, Verwässerung. Wir fürchten die Reaktion Gottes.

Ernüchterung statt Wahrheit

Für mich war der unique selling point der Leitfrage «Was ist der richtige Glaube?» allerdings weniger die Furcht vor Fehlern als die Liebe zur Wahrheit. Als junge, engagierte Gläubige stand für mich fest, dass es die eine Wahrheit gibt und dass ich sie kennen und dafür einstehen wollte. Ich liess mir mit zwanzig das Wort «Wahrheit» auf den Knöchel tätowieren, um dieser Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Ich wollte und konnte mich nicht zufriedengeben mit einem «Wenn das für dich stimmt» oder einem «Richtig ist, was dir guttut». Ich wollte wissen und akzeptieren, was wahr ist, unabhängig davon, ob es mir gefiel oder mehrheitsfähig war.

Die Leitfrage «Was ist der richtige Glaube?» führte mich aber nicht zur Wahrheit, sondern zur Ernüchterung. Ich merkte: Sie gaukelt mir eine Sicherheit vor, die es nicht gibt. Sie suggeriert eine Eindeutigkeit, die nicht existiert. Unser Gott ist ein verborgener Gott. Er hat darauf verzichtet, sich eindeutig zu offenbaren. Kein Wunder, das er vollbracht hat – von der Teilung des Meeres bis zum leeren Grab – wurde von allen Menschen als Wunder gedeutet. Keine Glaubensgemeinschaft, keine Gemeinde kommt anhand der Bibel zur selben Wahrheit, zur gleichen und klaren Antwort auf die Frage «Was ist der richtige Glaube?».

Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Christentums und der Entwicklung der Lehre wurde mir immer stärker bewusst, mit welcher unvermeidbaren Voreingenommenheit wir die Bibel lesen. Viele der Lehren, die ich so selbstverständlich als «biblisch fundiert» betrachtet habe, sind in Wahrheit von einer bestimmten Tradition, einer bestimmten Zeit oder einer bestimmten Region der Welt geprägt. Christinnen und Christen haben überall und zu allen Zeiten die Bibel selektiv gelesen, ihre Inhalte unterschiedlich gewichtet und gedeutet, unterschiedlich darüber geurteilt, was auf welche Weise zu verstehen ist.

Risse im Fundament

Der zweite Grund, warum ich der Frage «Was ist der richtige Glaube?» nicht mehr alles unterordnen möchte, ist meine Überzeugung, dass Gott dies auch nicht tut. Ich will und kann nicht glauben, dass es tatsächlich die Frage ist, die uns an der Himmelspforte gestellt wird und über unseren Einlass ins Paradies entscheidet. Falsche Trinitätslehre? Vielleicht findest du in den hinteren Rängen noch einen Stehplatz! Zuviel Erbarmen mit Homosexuellen? Pech gehabt! Erwartet Gott wirklich von uns – vom Analphabeten, von der Hochschulprofessorin, vom achtjährigen Kind, von der Migrantin – zu erkennen, was der richtige Glaube ist?

In vielen christlichen Gemeinschaften ist mir genau diese Erwartung begegnet, und es hat mich zermürbt, zu sehen, welche Wirkung sie entfaltet. Anhand der Leitfrage «Was ist der richtige Glaube?» werden Menschen beurteilt, befördert oder ausgegrenzt, eingeladen oder fallengelassen. Gemeinden spalten sich, grenzen sich ab, feinden einander an. Zweifelnde zerbrechen an dem, was sie als Fundament betrachten, aber in Wahrheit eine bröckelnde Mauer ist. Natürlich dürfen Fehler gemacht werden, natürlich gibt es Vergebung und auch Grosszügigkeit. Aber Vergebung und Grosszügigkeit setzen voraus, dass der Scheiternde den Anspruch kennt und anerkennt, woran er gescheitert ist.

Diese Erfahrungen lassen mich daran zweifeln, dass die Frage «Was ist der richtige Glaube?» das Reich Gottes auf Erden herbeiführt. Ich glaube vielmehr: Solange sie für unsere Kirchen die Leitfrage ist, wird es unheimlich schwer für uns sein, als Christinnen und Christen gemeinsam der Welt und einander zu dienen und unsere Vielfalt zu einer Ressource zu machen.

Welche Frage soll uns leiten?

Halte ich die Frage deshalb für falsch oder ohne Berechtigung? Natürlich nicht! Sie wird Menschen beschäftigen, solange es Menschen gibt. Sie beschäftigt auch mich. Aber es ist nicht die einzige Frage und ich behaupte, es ist nicht die wichtigste. Wenn ich alle Geheimnisse kenne und alle Erkenntnis besitze und wenn ich allen Glauben habe, Berge zu versetzen, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts, schreibt Paulus. Denn Stückwerk ist unser Erkennen (1. Korinther 13). Die Liebe zur Wahrheit drückt sich aus, in dem demütigen Eingeständnis, sie nicht zu besitzen.

Wenn es nun nicht zuerst und vor allem darum geht, das Richtige zu glauben, worum geht es dann? Es gibt christliche Gemeinschaften, die die Frage «Wie sollen wir leben?» in den Vordergrund stellen. Für andere ist die Frage «Wie finden wir zu uns selbst?» zentral, oder die Frage «Wie stärkt mich mein Glaube?» Jede dieser Fragen ist relevant und berechtigt. Ich sehe aber auch bei jeder von ihnen das Risiko der Einseitigkeit, wenn sie zu viel Raum einnimmt und andere Fragen verdrängt.

«Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer»

Noch einmal: Worauf kommt es wirklich an? Diese Frage wurde auch an Jesus herangetragen. Zum Beispiel, als er nach dem höchsten Gebot gefragt wurde. In seiner Antwort zitierte er zwei Stellen aus der Torah: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Matthäus 22,37f). In anderem Zusammenhang kam Jesus von sich aus darauf zu sprechen, worauf es ankommt. Nachdem seine Jünger gegen das Sabbatgebot verstiessen, sagte er zu ihren Anklägern: Wenn ihr begriffen hättet, was das heisst – Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer – dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt (Matthäus 12,7, zit. Hosea 6,6).

Liebe, Barmherzigkeit und Glaube beschreiben ein Verhältnis, sie brauchen ein Gegenüber. Es geht um Beziehung. Beziehung zu Gott, zu meiner Umwelt, zu meinen Mitmenschen, zu mir selbst. Beziehung, die von Vertrauen und Verantwortung geprägt ist. Gesunde, freiwillige, reife, versöhnte, liebevolle, authentische Beziehung. Die Botschaft Jesu ernst zu nehmen, bedeutet für mich, immer wieder unsere Motivation, unsere Regelwerke, Ziele und Anliegen daraufhin zu befragen, ob sie in solche Beziehungen hineinführen oder daraus herausführen. Ob sie unserer Gemeinschaft mit Gott und einander dienen oder zum Selbstzweck geworden sind. Ob der Glaube Verbindung schafft oder Unschuldige verurteilt. Es bedeutet, zu fragen: «Wohin führt Liebe?» Wohin hat Gott sich von seiner Liebe zu den Menschen führen lassen? Und wohin führt diese Liebe uns?

Wenn ich frage «Wohin führt Liebe?», dann frage ich nach dem, was Jesus das Reich Gottes nennt. Dann will ich wissen, zu was für einer Welt, was für einer Gesellschaft, was für einer religiösen Kultur, was für einem Umgang miteinander und mit der Schöpfung die Liebe Gottes uns führt. Die Frage beschränkt sich aber nicht auf das ethische «Wie sollen wir leben?». Sie umfasst auch die Frage «Worauf können wir hoffen?». Denn wenn die Liebe Gottes Motiv ist, dann reicht ihre Wirkkraft über unsere Möglichkeiten und über unser Leben hinaus.

Umgang mit der Bibel

Die Leitfrage «Wohin führt Liebe?» bringt mich zu einem Bibelverständnis, das nicht jedes Wort in Übereinstimmung bringen muss, sondern nach der Entwicklung und Stossrichtung fragt. Wenn ich danach frage, wohin Liebe führt, dann interessieren mich der Weg und das Ziel der Geschichte Gottes mit den Menschen. Dann sehe ich fasziniert, wie seine Verheissung bei einem einzelnen Menschen (Abraham) ihren Ausgang nahm und zu einer Verheissung für die ganze Welt wurde.

Wenn ich frage «Wohin führt Liebe?», dann brauche ich keine Sicherheit darüber, in welcher Reihenfolge das Ende der Welt vonstattengeht. Stattdessen freue ich mich an der Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Dann frage ich nicht, ob die Bibel Sex vor der Ehe erlaubt. Eher denke ich darüber nach, was es bedeutet, in Beziehungen Verantwortung für andere und für mich selbst zu übernehmen. Dann erkenne ich: Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen (Markus 2,27).

Wenn ich frage «Wohin führt Liebe?», dann ist es weniger wichtig, ob die Schriften der Bibel früher oder später entstanden sind, von einem oder von mehreren Autoren bearbeitet wurden. Dann bringt es meinen Glauben nicht ins Wanken, wenn sich ein Bericht als historisch fragwürdig erweist oder Texte sich widersprechen. Denn die Liebe Gottes äussert sich für mich nicht darin, dass er der Welt ein perfektes Buch diktiert hat, sondern darin, dass sein Geist in den Worten der Bibel wirkt und mich dazu in Beziehung treten lässt. Und vor allem äussert sie sich im lebendigen Wort, in Christus, in dem Gott sein Gesicht gezeigt hat.

Die Spannung aushalten

Wenn ich frage «Wohin führt Liebe?», dann bemühe ich mich mit anderen Gläubigen (vielleicht sogar mit Andersgläubigen!) um eine Beziehung und eine gemeinsame Vision und halte es aus, dass wir nicht dasselbe für richtig halten. Dann weiss ich, dass die Welt uns nicht daran erkennen wird, dass wir recht haben oder uns einig sind, sondern daran, dass wir uns lieben (Johannes 13,35).

In dieser Spannung zu glauben und zu lieben, ist alles andere als einfach. Wir fürchten uns davor, Verrat an der Wahrheit zu üben, auch wenn wir wissen, dass wir nichts wissen. Insofern ist es keineswegs so, dass die Leitfrage «Wohin führt Liebe?» den Weg durch das breite Tor weist, während die Frage nach dem richtigen Glauben durch die enge Pforte führen würde. Umso mehr plädiere ich dafür, die Spannung auszuhalten und die Chancen darin wahrzunehmen. Wenn ich sehe, mit wem Jesus seine Zeit verbrachte, dann gewinne ich den Eindruck, dass er es auch getan hat.

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Text // Sara Stöcklin-Kaldewey Sara Stöcklin-Kaldewey hat Theologie und Philosophie studiert und in Kirchengeschichte promoviert. Sie ist Mutter von zwei Söhnen, Projektleiterin bei den reformierten Landeskirchen und angehende Pfarrerin.
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