Zum Klingen kommen

von Martin Schleske

Das ist das Geheimnis im Geigenbau: Das Holz gibt sich zu erkennen. Nicht das Holz wird mir gerecht, sondern ich als Meister werde dem Holz gerecht. Ich schaue, was das Holz braucht, um zu klingen. Genauso tut es Gott mit unserem Leben.

17.02.2022

Ich habe euch hier ein unfassbar wertvolles und besonderes Klangholz mitgebracht – Bergfichte in 1800 Meter Höhe gewachsen. Daraus wird in ein paar Wochen eine Geige entstanden sein. Ich bekomme Ehrfurcht, wenn ich solch ein Holz in der Hand habe. Es sind vielleicht einer von 10 000 Stämmen, die so ein Klangholz hervorbringen.

 

Das Gleichnis vom Klangholz

Ich möchte euch, weil ich so eine Liebe zu diesem Holz habe, gern ein Gleichnis weitergeben: das Gleichnis vom Klangholz, ein Gleichnis über die menschliche Seele und darüber, was ich durch dieses Holz gelernt habe. Aus diesem Holz eine Geige zu bauen ist eine grosse Leidenschaft, und ich habe es auch mit sehr leidenschaftlichen Menschen zu tun. Musiker, die in meine Werkstatt kommen, sind zum grossen Teil sehr anstrengende und leidenschaftliche Menschen. Sie haben ein grosses Können, sie spielen auf den grossen Bühnen dieser Welt und sie sind oft sehr verletzt, stehen unter Druck, haben auch Ängste. Mit diesen Menschen zu tun zu haben, ist eine grosse Herausforderung. Manchmal habe ich das Gefühl, das sind so grosse Seelen, die ganze Werkstatt schwappt davon voll, und ich muss aufpassen, dass ich nicht absaufe in den ganzen Ansprüchen, die an mich gestellt werden. Denn was diese Menschen wollen, ist nicht eine Geige. Die Menschen suchen ihre Stimme. Es ist die Stimme der Seele, die auf einer Geige anfängt zu singen. Zufällig ist es bei mir eine Geige. Es könnte genauso eine Klarinette, Oboe, Trompete, ein Klavier oder Cello sein. Die menschliche Seele sucht ihren Klang, und das ist so tief, so verletzlich und mit so einer grossen Sehnsucht verbunden. Wenn Menschen ihren Klang, ihre Stimme gefunden haben, und sie spielen, dann hat man den Eindruck, sie fliegen. Sie haben die Flügel ausgebreitet, fliegen und wissen gar nicht, dass sie fliegen können. Ich erlebe immer wieder Musiker, wenn sie spielen, dass sie Zeit und Raum vergessen, sie haben das Gefühl, sie werden gespielt. Das Instrument spielt den Musiker, nicht der Musiker spielt die Geige.

 

Wenn der Hobel die Hand führt

Ich habe es vor Kurzem wieder erlebt: eine Bratschistin aus einem der grossen deutschen Sinfonieorchester. Sie hat angerufen vor drei Jahren. Wir haben uns kennengelernt. Ich habe zu spüren versucht, was für ein Mensch ist sie, was sie als Bratsche braucht. Nach drei Jahren – in der Zeit habe ich natürlich viele andere Instrumente gebaut – war die Bratsche fertig, von der ich gespürt habe, das ist jetzt ihre Stimme. Sie kam dann, hat die Bratsche genommen und begonnen, die Cellosuiten von Bach zu spielen. Sie musste nach zwei Minuten aufhören, weil ihr die Tränen in Strömen aufs Instrument gelaufen sind. Sie konnte nicht mehr weiterspielen. Sie hat die Bratsche weggelegt und gesagt, sie sei überwältigt, sie kann nicht mehr, sie muss sich erstmal erholen. Sie wusste nicht, dass es so was gibt, dass sie so eine Stimme haben kann.
Solche Erlebnisse sind bewegend und berührend, setzen mich aber auch sehr unter Druck, weil man das nicht machen kann. Man kann es nur empfangen, man kann es sich schenken lassen. Ich weiss nicht, wie es geht, ich muss mich hineinfühlen und ich muss während des Arbeitens spüren, was die Hände tun sollen. Oft ist es dieses Gefühl, das ist das Schönste an der Werkbank, wenn ich erlebe, als ob der Hobel die Hand führt. Nicht die Hand den Hobel, der Hobel führt die Hand und die Hand lässt es nur zu und sie erlaubt, dass der Hobel das Richtige tut. Die Augen wollen nichts mehr, sie schauen nur noch zu und es entsteht ein tiefes Glücksgefühl über die entstehende Stimmigkeit. Dann merke ich manchmal plötzlich, ich habe vier Stunden lang nichts gedacht. Ich habe nur erlaubt, dass das Richtige passiert. Ich habe das Rauschen des Holzes gehört. Ich habe erlebt, dass alles geschieht, wie es sein muss. Es gibt ein grosses Gefühl der Dankbarkeit, wenn sowas gelingt und am Ende die Stimme eines Menschen, die Stimme seiner Seele, entstanden ist.

 

Mehr Kraft nützt nichts

Jedes Holz ist anders. Wenn das Holz sich nicht zu erkennen gibt, kann ich es nicht zum Klingen bringen. Jeder gute Geigenbauer weiss, er muss das Holz erkennen in seiner Klangfarbe, in seiner Steifigkeit, seiner Dämpfung, seinem Elastizitätsmodul, in seinem ganzen Klang. Alles, was Holz ausmacht, muss sich zu erkennen geben, damit es klingen kann. Jeder Geigenbauer seit 500 Jahren macht das gleiche: Er nimmt es in die Hand und er klopft es an. Es gibt sich zu erkennen, indem ich den Klopfimpuls dem Holz gebe. Doch wenn man nur irgendwie draufklopft, gibt es keinen Klang, es bleibt dumpf. Das Holz muss an der richtigen Stelle gehalten werden, um zu klingen. Das Holz hat geheimnisvolle Knotenpunkte, Ruhepunkte, in denen man es halten muss, damit es klingt.
Das ist ein Gleichnis für die menschliche Seele. Manchmal erleben wir diesen dumpfen Ton, wo nichts zum Klingen kommt. Es gibt diese Zeiten, wo wir müde sind, und es schwerfällt, mit Freude in den Tag zu gehen, wo alles anstrengend und mühsam geworden ist. Und dann sagt mir dieses Holz: «Martin, glaube nicht diese gefährlichste Lüge der Seelenführung, dass dein Leben zum Klingen kommt, wenn du mehr Kraft aufwendest. Wenn dein Leben dumpf und kraftlos geworden ist, klingst du nicht mit mehr Kraft, sondern du klingst, wenn du an der richtigen Stelle in die Ruhe kommst.» Gerade in frommen, geistlich-spirituellen Kreisen und bei gewissenhaften Menschen, die so genau wissen, wie’s geht, läuft man Gefahr, dass man sich zum Guten prügeln will. Man merkt, die Seele ist schwach, müde, frustriert, vieles ist so anstrengend geworden im Leben, aber man denkt, es muss doch gehen! Und so prügeln wir auf uns ein, bis wir – im englischen depressed, – niedergeschlagen und depressiv sind. Doch die Lösung ist nicht, dass wir mehr Kraft brauchen, um zu klingen, sondern dass wir an der richtigen Stelle gehalten sind.

 

Gehalten in der Ruhe des Herzens

Deswegen habe ich mich gefragt, was dieser Ruhepunkt ist, und herausgefunden, dass alle grossen Kirchenväter, angefangen von Augustinus, diesem Punkt einen Namen gegeben haben, der sich über die Jahrhunderte der Menschheit mit diesem Begriff gezeigt hat. Sie nennen es die Herzensruhe, die Ruhe des Herzens. Doch was bedeutet es, in der Ruhe des Herzens gehalten zu sein. Ich habe viel darüber nachgedacht und meine Antwort ist peinlich: Es ist nur ein einfaches Wort, aber ich glaube, es ist die tiefste Wahrheit, die wir als Menschen hören sollen. Dieses Wort heisst Vertrauen. Nur ein Mensch, der aus Vertrauen lebt, ist in der Ruhe des Herzens gehalten und kann klingen. Das Geheimnis des Menschen, das Geheimnis der menschlichen Seele, ist: Du wirst klingen, wenn du aus Vertrauen lebst. Dann bist du gehalten, denn zu vertrauen heisst nicht, du musst dein Leben halten, sondern du weisst, ich werde gehalten, ich bin gehalten. Darum kann ich frei klingen, mein Leben wird zum Klingen kommen.
Das Vertrauen des Herzens ist das Geheimnis der ganzen Schönheit des Lebens, und aller Lebensfreude. Es ist das Geheimnis der Autorität und der Vollmacht, es ist das Geheimnis des klingenden und strahlenden und leuchtenden Lebens, dass du aus Vertrauen lebst. Doch wie komme ich dahin, an so einem Punkt gehalten zu sein, aus Vertrauen zu leben? Wie wachse ich hinein in dieses Vertrauen? Meine Antwort: Ich glaube, es hat zu tun mit einer ganz eigenen Qualität des Betens. Viele unserer Gebete sind so unfassbar ermüdend. Sie sind so, als hätten wir uns über all die Jahre, die wir im Glauben leben, irgendwie umgeben mit so einer religiösen Fettschicht. Wir beten so unglaublich korrekt und es kommt trotzdem nichts mehr durch. Wir beten unsere religiösen Gebete, und oft ist es so, habe ich den Eindruck, als würde der Himmel die Augen verdrehen und sagen: «Oh, er betet schon wieder.» Wir ermüden den Himmel mit unseren religiösen Gebeten, und Gott sagt: «Ich höre euch nicht!» Es ist wie ein Geigenbauer, der das Holz falsch klopft und das Holz sagt: «Ich klinge nicht.» Und der Geigenbauer sagt: «Ich höre dich nicht.» Ich glaube, das Geheimnis des Betens ist, dass wir uns zu erkennen geben im Gebet, genau wie das Holz sich mir zu erkennen gibt. Nur dann kann ich es als Meister zum Klingen bringen. Wenn wir uns Gott gegenüber nicht durch die Gebete des Herzens, in der Tiefe des Herzens, zu erkennen geben, weil wir so religiös geworden sind, dann kann Gott uns nicht zum Klingen bringen.
Es gibt aber manche Gebete, ich nenne es Herzensgebete, die den Himmel erschüttern und Gott sagt: «Jetzt habe ich dich gehört.» Es sind diese Herzensgebete der vollkommenen Ehrlichkeit. Manchmal ist es so, dass wir nicht mal einen ganzen Satz zu Ende sprechen können, und Gott sagt: «Dieser halbe Satz – jetzt hast du dich zu erkennen gegeben – du hast gebetet, was du wirklich im Herzen hast!»

 

Eine andere Art des Betens

So ist es mir immer wieder gegangen, dass ich mich fragte: Was braucht mein Leben, was braucht diese Werkstatt, was brauchen meine Instrumente für einen Menschen, für einen Geigenbauer, dass sie klingen können? Und ich merke: Ich bin selbst ein Instrument, das sich einstellen muss, um Instrumente bauen zu können, die klingen. Nur wenn ich aus diesem Vertrauen lebe, können Instrumente entstehen, die die Stimme eines Menschen sind.
Mein Werkstatthaus hat vier Stockwerke, ganz oben im Dachgeschoss ist die kleine Dachkapelle, und was ich mir angewöhnt habe ist, dass ich mich dort oben jeden Morgen hinsetze und meine Hände wie zu einer Schale Wasser mache. Ich lege die Bibel hinein und «trinke» Gottes Wort. Ich trinke diese Worte, oft ist es nur ein einzelner Vers. Das Wichtigste dabei ist, nicht kaputt zu denken, was ich lese, sondern es wie Wasser aufzunehmen. So ist es mir vor einiger Zeit gegangen: Im Markusevangelium bin ich auf das Wort gestossen: Früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, ging Jesus in eine einsame Gegend, um zu beten. Ich habe das sicher schon oft gelesen, aber habe mich plötzlich gewundert und gefragt: Was hat Jesus da eigentlich gemacht, wie hat Jesus all die Stunden im Gebet in der Einsamkeit verbracht. Denn er hat doch seinen Jüngern gesagt: Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Also hat Jesus nicht viele Worte gemacht. Während ich das so bewegt hatte, ist so ein Herzensgebet passiert, dass ich mich in dieser tiefen Sehnsucht des Herzens sprechen hörte: «Jesus ich möchte beten lernen wie du.» Ich bin fast erschrocken, dass ich das sagte. Und im gleichen Moment glaubte ich zu hören, wie Jesus sagt: «Martin, mein Gebet war und ist vollkommenes Vertrauen.» Dann habe ich es bildhaft vor mir gesehen, wie Jesus sich auf einem Felsen in der Einsamkeit niedergelassen hat. Es waren nicht viele Worte, er hat einfach gewartet, dass er durchflutet wird von Vertrauen, dass er eintaucht in diese Gottespräsenz und sein ganzes Leben, sein Geist, seine Seele von diesem Vertrauen durchdrungen werden. Und wie alles, was dann im Leben Jesu passiert ist, nur eine andere Art zu beten war. Es kam aus diesem Vertrauen heraus, dass das Richtige geschehen konnte. Und so war es, als sagte er mir: «Wenn du so durchflutet bist von Gott und durchflutet bist von Vertrauen, dann wird alles, was du an diesem Tag tust, nur eine andere Art des Betens sein. Du wirst an die Werkbank gehen und du wirst merken, deine Hände werden zum Gebet und tun das Richtige. Du kannst den Händen vertrauen und spürst, was passieren soll. Und Menschen, die kommen, du wirst sie anschauen und du wirst spüren, was mit ihnen ist. Alles, jedes Gespräch, jeder Blick, alles was du tust, der ganze Tag wird nur eine andere Art des Betens sein. Gib acht, dass du durchflutet bist von mir. Nimm dir die Zeit, rede nicht viel im Gebet, sondern rede das, was ich wirklich hören muss.»

 

Lass dich spielen!

Gib dich deshalb mit deinem Herzen vor Gott zu erkennen, denn nur wenn Gott dich erkennen kann, kann er dich zum Klingen bringen, und der Tag wird erfüllt sein, von dem was geschehen soll durch dich. Das ist für mich der eine Punkt des Gleichnisses, die Knotenpunkte, die Ruhe, das vollkommene Vertrauen. Aber es ist eigentlich nur die Hälfte. Die andere Hälfte möchte ich auch noch andeuten. Das sind die Schwingungsbäuche. An den falschen Punkten lässt sich das Holz nicht anregen. Es lässt sich nur anregen, wenn du am richtigen Punkt erregt wirst. Das ist die andere Seite der Schönheit mit Gott zu leben, aus dem Vertrauen in diese Ruhe des Herzens zu kommen. Aber dann zu spüren: Wo werde ich unruhig? Es gibt eine heilige Unruhe, dass du angeregt wirst von Gott, dass du spürst, er macht dich unruhig auf etwas. Du spürst etwas, du hörst etwas, du siehst etwas, du merkst etwas in einer bestimmten Situation. Es knistert. Jetzt kann etwas passieren, und das ist das Geheimnis des Heiligen. Eines meiner Lieblingsworte von Jesus im Johannesevangelium 5,19, wo Jesus von sich selber sagt: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht, das tut in gleicher Weise der Sohn. Jesus hat in dieser vollkommenen Ohnmacht gelebt zu sagen: «Ich kann nichts von mir aus tun.» Diese Ohnmacht in uns zu bejahen ist die Grundlage jeder Vollmacht. Alles andere ist, wir leben aus uns selbst. Aber zu sagen: «Ich tue nichts von mir aus, sondern ich höre, ich sehe, spüre, was Gott tut und das tue ich.» Dann geschehen Wunder und Heilungen und die richtigen Begegnungen und zur richtigen Zeit der Trost und das rechte Wort und das, was wir tun sollen und wir werden uns wundern, wie sehr Gott durch uns zum Klingen kommt.

Das ist für mich das Geheimnis, das Zusammenspiel, eine Liebesgeschichte, die zwischen uns und Gott passiert. Dieses Zusammenspiel zwischen dem Glauben, den Gott in uns in unserem Herzen finden kann, und der Gnade, die uns anregt, dass das Richtige geschieht. So glaube ich, ist das vielleicht der wichtigste Satz in meinem Leben und er heisst: «Die Gnade möchte unseren Glauben spielen, wie ein Musiker sein Instrument. Deshalb heisst Glauben: Lass dich spielen!»

 

Personenbeschreibung zum Portraitbild:

Martin Schleske ist Geigenbaumeister, Physiker und Schriftsteller. Die New York Times nannte ihn «einen der führenden Geigenbauer unserer Zeit». Solisten und Konzertmeister aus der ganzen Welt zählen zu seiner Kundschaft. Seine Bücher «Der Klang» (2010) und «Herztöne» (2016) schafften es auf die «Spiegel»-Bestsellerliste. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. 

Der vorliegende Text ist eine gekürzte Version seines Talks anlässlich der Explo Days 2021.

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Text // Martin Schleske
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